Sonntag, 4. September 2011

reifen

Wenn man in Schwierigkeiten gerät, dann reift man, wird in fundamentalistischen Kreisen behauptet. Das sei das Trainingslager für anderes, meinte gar einer in einer Predigt meiner alten Gemeinde. (Gleichzeitig wird ja auch immer behauptet, dass Gott einem nicht mehr auferlege, als man tragen könne.)

Nun, es gibt durchaus Schwierigkeiten, an denen man zerbrechen kann. Da ist nix mit Reife.
Ich denke da immer an die Nazis. Was gibt es da für Reifemöglichkeiten, wenn man in der Gaskammer gelandet ist?

Fand das also immer Humbug, was da so von der Kanzel runter behauptet wird. Wenig durchdacht und so gar nicht reif.

Nun lese ich gerade "Rabbi Nachman und die Thora" von Lea Fleischmann, bei knaur erschienen. Da steht auf S. 139:Rabbi Nachman entwickelte eine Theorie von der Notwendigkeit des Konflikts. Nicht durch Bewunderung und Anerkennung gelangt der Mensch in höhere Sphären, sondern die Schicksalsschläge und die Erschwernisse des Lebens läutern die Seele. So wie rohes Metall durch Feuer in eine edle Form gebracht wird, braucht die Seele das Feuer der Ablehnung und des Streits, um ihre Vollendung zu finden.(Muss dazu sagen, Rabbi Nachmann war ein eigensinniger Mensch. Die haben sowieso dauernd Streit.)

Das hört sich schon gemässigter und realistischer an. Wenn man noch den eigensinnigen Rabbi bedenkt, der eh ständig durch's Feuer geht, weil er ständig aneckt, und der eh dauernd Herausforderungen sucht, dann wird das Ganze verständlich.

Ja, Herausforderungen brauchen wir. Und da es sich um den religiösen, also den seelischen Kontext handelt, brauchen wir die seelischen Probleme, an denen zu reifen ist.

Aber bitte: Alles mit Mass. Die Gaskammer ist ein extremes Beispiel von mir. Ich denke, es gibt genug andere Sachen, bei denen man einfach nur zuguckt, dass man überlebt bzw. irgendwie durchkommt. (Wenn überhaupt noch.) Da ist dann nichts mehr mit Reife.

Trackback URL:
https://violine.twoday.net/stories/reifen/modTrackback

ulf_der_freak (Gast) - 4. Sep, 09:41

Ich komme Dir zunächst einmal unatheistisch ;-)
Man könnte auch sagen, daß der Sinn vieler Dinge dem Menschen und seinem beschränkten Geist verborgen bleibt. Und so betrachtet keinen Sinn zu machen scheinen.

Wenn es einen Gott gibt, muß der denn unbedingt so "funktionieren", wie die Menschen glauben?

Als tiefgläubiger Atheist meine ich allerdings, daß die Frage nach dem Sinn müßig ist.

Violine - 4. Sep, 11:30

Du hast recht mit dem, was Du sagst.

Allerdings: Muss man bei Schwierigkeiten überhaupt nach dem Sinn fragen? Schwierigkeiten gibt es nunmal, basta. (Schicksalsschläge und Naturkatastrophen auch.) Manche bewältigen wir, manche nicht.

Was ich unsinnig finde, ist zu sagen, dass es keine Zufälle gibt. Das ist auch wieder im Fundamentalismus.
So kann ich mir die Welt einfach nicht vorstellen. Wieso soll es keine Zufälle geben.

Nach der Theologie von Hans Kessler (in "Evolution und Schöpfung in neuer Sicht" bei Butzon & Bercker erschienen) gibt es den aber doch. Hat mir gleich gefallen.

So gesehen, können Schwierigkeiten eine Reifung bewirken, müssen aber nicht. Und die erfolgte Reifung muss durchaus nicht notwendig sein. Vielleicht gibt es auch einen anderen Weg?
Ich denke jetzt an die Psychiatrie. Akute Schizophrenie geht nicht durch "Erkenntnis" und Gedankenübung weg, da braucht es Tabletten.

Ist von mir vielleicht nicht so ganz richtig, auf dem Fundamentalismus rumzureiten, denn da kann man auv vielem rumreiten.
waelti (Gast) - 4. Sep, 14:14

hm,

Vorab. Finde ich cool, Atheist und (vermutlich) nicht Atheist schön in der Diskussion vereint. Geht nicht immer. Bei mir dürft ihr übrigens raten wie ich mir mein Weltbild zimmere...

Ulf bringt ein geiles Wortspiel - "als gläubiger Atheist". Birgt Stoff für sehr viele Artikel ;)

Vielleicht ist der Begriff "Schwierigkeiten" einfach zu eng gefasst. Blitzschnell, wenigstens für meine geistigen Kapazitäten, ist mir ein englischer Artikel eingefallen. Da ging es zwar um was ganz anderes, allerdings wurde im Artikel der Begriff "Schwierigkeiten" zerpflückt. Der verwendete Begriff war, natürlich, "Problems". Ist mMn sehr ähnlich.

Unterschieden wurde dann zwischen "Problems" und "Constraints". Etwa so:
Problems, das sind die Schwierigkeiten/Probleme, die ich ändern kann. Und an denen ich somit auch wachsen kann.

Constraints, das sind Probleme die eben nicht zu ändern sind. Ob das als Glück/Unglück oder Zufall bezeichnet wird ist nicht wichtig. Oder?


Den Link weiß ich leider nicht mehr :(

P.S.: Wenn sich zwei Rabbi's in einem Raum befinden, dann soll es mindestens 3 unterschiedliche Meinungen geben.

Violine - 4. Sep, 16:39

Mit dem Ulf führe ich die besten theologischen Gespräche.

Nun ja, mich hatte es in eine mehr oder minder fundamentalistische Gemeinde verschlagen. Dabei bin ich gar kein Fundi.
Über Fundis kann man sich jedenfalls fürchterlich aufregen, die geben jede Menge Stuss von sich.
Eine Freundin von mir ist da noch drin, und sie hat viele theologische Fragen. Die sie den Leitern/Predigern auch stellt. Und als Antwort kommt dann immer, sie habe da was nicht verstanden.
Man soll also eine linientreue Theologie haben. Nur, so ist das Leben nicht.

Das soll illustrieren, dass es beim Fundamentalismus ziemlich platt hergeht, und da ganz bestimmt nicht unterschieden wird zwischen "problems" und "constraints". (Zumal Gott uns ja angeblich nicht mehr aufbürdet, als wir tragen können.)

Finde ich gut, Deinen Beitrag. Ganz dunkel erinnere ich mich auch noch an die Unterscheidung zwischen "problems" und "constraints". Kommt das nicht in heutiger Managementlehre vor? Aber ich weiss es nicht mehr. Kann sein, dass ich das zu irgendeinem SWR2-Podcast gelesen habe.

Der Witz mit den Rabbis ist gut.
waelti (Gast) - 4. Sep, 17:59

@violine
Ulf, ja. Über sein Blog (bzw. Deine Kommentare da) habe ich hierher gefunden. Ich kann es nicht erklären, "die besten theologischen Gespräche mit ihm", das wundert mich nicht.

Zum Fundamentalismus gibt es nicht sehr viel zu sagen, zwei Buchstaben reichen: BS.

Häufig kommt in mir das Gefühl hoch: moderne Fundi's, moderne Inquisition ist häufig auf meiner Seite anzutreffen. Nicht bei Esoterikern oder religiösen Menschen. Damit hat sich dann das "Gott bürdet uns nicht mehr auf, als wir tragen können" erledigt? ;)

"Esoteriker" ist, natürlich, ein sehr weiter Begriff. "Christ" allerdings auch. Wobei ich liebe Gespräche mit der "anderen Seite" führe. Da scheint mir der Anteil der vernagelten doch etwas geringer. (Ulf, ruhig bleiben, Ausnahmen bestätigen die Regel.)

Das mit dem Management wegen "problems" und "constraints" ist sehr wahrscheinlich. Ich lese zwar sehr viele unterschiedliche Themen, doch ein Schwerpunkt liegt schon bei Management, BWL, Logik.

Noch.

Violine - 4. Sep, 18:07

Du bist herzlich willkommen hier, waelti. Ich habe schon gesehen, dass Du Gast bei Ulf bist.

Mit Esoterikern habe ich praktisch nichts zu tun, aber ich hatte viel zu tun mit religiösen Fundis. Und das ist einfach nicht zu ertragen.

Dagegen habe ich Anselm Grün für mich entdeckt. Der ist so etwas von barmherzig und gleichzeitig klarsichtig, das ist eine tolle Sache. Und er geht mit ganzem Herzen auf seine Mitmenschen zu, nimmt sie ernst, nimmt sie an.

Zu Atheisten kann ich nichts sagen (Ulf scheint mir eigentlich gar nicht so die Ausnahme zu sein), allerdings habe ich eine Zeit lang bei den scienceblogs mitgelesen, und das wurde mir dann irgendwann unsäglich. Die sind so rigoros in ihrer "Areligiosität", "Vernunft", "Logik", "Aufgeklärtheit", da kann ich nicht dahinter stehen.
waelti (Gast) - 4. Sep, 18:57

'Die sind so rigoros in ihrer "Areligiosität", "Vernunft", "Logik", "Aufgeklärtheit", da kann ich nicht dahinter stehen.'

Ja. Ich mag den Typen der ich mal war nicht mehr.

Vielleicht sind Fundis generell nicht zu ertragen. Ich mag Gespräche mit Menschen die in Betracht ziehen...
... "Ich könnte auch *nicht* Recht haben".

Hautfarbe, Geschlecht, Weltanschauung etc.? Egal.

P.S.: Bei Twoday etwas unschön: wenn ich auf ein Antwort wieder antworten will, dann muss ich wieder recht weit hochscrollen. Lässt sich das "Kommentar abgeben" unten nochmal wiederholen? Das ist allerdings nicht wirklich wichtig.

Violine - 4. Sep, 19:02

Fundis sind allgemein unerträglich, das denke ich auch. Egal, welcher "Religion" sie auch immer angehören.

twoday basiert auf antville und es ist etwas altertümlich. Tut mir leid.
Man kann kommentieren, indem man normal auf "Kommentar" geht. Den Folgekommentar, auch den Folgekommentar zum Folgekommentar, kann man absetzen, indem man auf "antworten" zum Ursprungskommentar geht. Das wird dann nacheinander alles eingerückt aufgelistet.
Die meisten sind WP gewöhnt, da ist das natürlich anders. Bei serendipity kann man es sich aussuchen, worunter man stehen will. Beim Rest weiss ich es nicht.
waelti (Gast) - 4. Sep, 19:42

Ah, ja

auf die Idee mit dem Kommentar davor bin ich nicht gekommen. Allerdings nicht durch WP geschädigt, lediglich nicht über den Tellerrand geschaut. WP habe ich zwar auch, neben s9y und PmWiki. Und mein erstes Blog war Nucleus. Etwas angestaubte Blogsoftware passt recht gut zu meinem Lebensalter ;)

Zum "herzlich Willkommen", mit schlechtem Gewissen...
Auch wenn ohne Vostellung, ich fühle mich "sauwohl" hier.

Liebe Grüße :)
Violine - 4. Sep, 19:49

Danke, waelti!
Ich freue mich, dass Du da bist. Beim Ulf lernt man doch nette Leute kennen!
Menachem (Gast) - 5. Sep, 00:03

"..sondern die Schicksalsschläge und die Erschwernisse des Lebens läutern die Seele."

Ich habe einmal darüber geschrieben " auch ein Rabbi hat es schwer". Auch er muss sehen, wie er seine Schäfchen beisammen hält.

Über diesen Satz sollte und darf man in Ruhe ausgiebig nachdenken. Eine soche Negation gehört nach meiner Vorstellung zum Empfinden können des "Schönen" - aber auch nicht zu mehr. Und wie bei saurer Sahne reicht es, sie selten schmecken zu müssen. Sie zu einerDoktrin zu ernennen, gehört meiner Meinung nach etwa ins 15.Jht.

Violine - 5. Sep, 00:09

Rabbi Nachman hat von 1772 bis 1810 gelebt. Im Osten. Wo es viele Progrome gab.
ulf_der_freak (Gast) - 5. Sep, 11:25

Ui, ich danke herzlich für die Komplimente! *rotwerd*

Violine - 5. Sep, 12:21

Ha ja, gern geschehen.

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